» CHRISTINE SCHINDLER - oder die Sicht hinter der Ansicht «

Prof.Dr.Dieter Ronte

 

Text zur Serie BUNGALOW PARK

2018


 

Fassaden

 

Die Fotos von unbekannten Orten auf Ibiza setzen sich unmittelbar mit den Möglichkeiten der Fotografie auseinander.

Christine Schindler diskutiert die grundlegenden Optionen des Mediums und kommt zu sehr eigenen, persönlichen Ergebnissen. Ihre Fotografie ist Foto als Dokument, als Unschuld, da nur abbildend, also sachlich. Zugleich ist die Fotografie aber auch subjektiv, verdeckend und auch aufklärend.

Das Abfotografieren von Fassaden, Architekturen ist berechnend. Durch die Zusammenstellung zweier Motive in einem Bild ist die Wiedergabe der scheinbar einfachen Motive eine starke und doch verdeckte Interpretation geworden. Diese visuellen Einheitlichkeiten mit versteckten Störungen sind das Konstrukt von Berechnungen, neuen gewollten Veränderungen von visueller Qualität und zugleich von klandestiner inhaltlicher Aussage. Die Fotografie ist einerseits Dokument und auch historische Erinnerung.

 

Fragen

 

Denn die Infragestellung des zu Sehenden ist quasi eine Aufgabe der Fotografie im doppelten Sinne des Wortes Aufgabe. Die Geschichte der abgebildeten Orte bleibt versteckt; Personen, die hilfreich erzählen könnten, sind auf den Fotografien nur selten zu sehen. Und trotzdem eint alle Fotos die Frage nach Geschichtlichkeit, nach Dokumentation, nach Nachweisen im Sinne einer Aufgabe von Objektivität. Hat die Fotografie eher die Verpflichtung zur Wahrheit als Malerei oder Plastik, da sie mit abbildenden Mitteln arbeitet? Die Frage nach Schönheit, romantischer Idylle auf dem zauberhaften Ibiza wird gar nicht gestellt. Touristische Träume kommen nicht auf. Die Kultursprache der Insel wird nicht diskutiert.

 

Geschichte

 

Trotzdem erkennt der Betrachter die deutsche Sucht nach der Idylle. Diese fast biedermeierliche Sehnsucht nach persönlichem Glück oder individueller Freiheit wird in den Bildern reflektiert. Denn die Fassaden spiegeln in der neuen Zusammensetzung und Ausschnitthaftigkeit sehr wohl die schreckliche, politische Zeit der Nationalsozialisten und der Franco-Ära als auch die Bürgerlichkeit des visuellen Denkens wieder. Man spürt die Ungerechtigkeiten, die diesen merkwürdigen Arten anhaften, die Todesängste und die politischen Morde, die Täter und ihre Opfer. Vielleicht sind die Fotos deshalb überwiegend so menschenleer?

 

Schindler spricht von mehreren Orten auf Ibiza, von denen der normale Tourist wenig oder nichts erfährt: Bungalowpark, Ses Feixes, Sa Penya, Dalt Vila, Ses Salines, Sa Canal, Cal’o den Serra, zumeist Orte, die irgendwo im Niemandsland liegen. Eine präzise Information darüber enthält der Text von Beate Wedekind, in dem Katalog „Christine Schindler. IBIZA - Abseits ist überall“ (Samuelis Baumgarte Galerie, Bielefeld 2013). Es sind Siedlungen für ehemalige Nazis und ihre Familien, Naturschutzgebiete, das alte Zigeunerviertel, die obere Altstadt, den Touristen als UNESCO Weltkulturerbe bekannt, ein riesiges Brandgebiet mit zerstörter Natur, eine archäologische Industrielandschaft, der kleine Hafen bei den Salinen, ein Geisterhaus des spanischen Architekten Josep Louis Sert.

Es gibt keine innere Zuordnung der Bereiche, wohl aber eine innere Angleichung durch das Kunstwollen von Christine Schindler. Sie sucht die nicht mehr intakten Oberflächen von Architekturen, Fassaden, Gegenständen. Sie verschweißt das Nebeneinander zu einer neuen Einheit, die dennoch fragil bleibt, sich angegriffen zeigt; angegriffen von der Benutzung, dem harten, heißen und salzigen Klima der Insel, oder aber, weil der Ort ein Versteck ist, wie die Siedlung Bungalow Park.

An dieser Siedlung zeigen die Fotos Geschichte auf. Sie sprechen von der Zusammenarbeit Hitlers mit Franco, den vielen Faschisten, die sich in der Nazizeit  auf den Balearen aufhielten und aber auch den Nazis, die nach dem Kriegsende auf Ibiza oder auch auf Mallorca der Franco-Ära Zuflucht und Sicherheit gesucht und gefunden haben. Sie sind heimlich dorthin gebracht worden. Den Ruf als Insel der Hippies, sehr zur Beunruhigung der Geflüchteten, erringt Ibiza Jahre später.

Dieser Teil der deutschen und spanischen Geschichte ist bis heute kaum aufgearbeitet worden. Spanien hat 1977 nach dem Tod des Diktators Franco ein Amnestiegesetz erlassen, das die Nachforschungen über die Greueltaten auch der spanischen Faschisten praktisch verboten hat. Selbst ein renommierter Richter wie Baltasar Garzon wurde 2010 die richterliche Gewalt entzogen, weil er Massengräber aus der Franco-Zeit öffnen lassen wollte, auch jenes, in dem der Antifaschist und weltberühmte Dichter Garcia Lorca vermutet wird.

Die Balearen waren Wohnorte deutscher Residenten im Sinne ordentlich registrierter ausländischer Einwohner auch in den 1920er und 1930er Jahren – unter ihnen auch viele braune Parteigenossen, die die politischen Konflikte in die deutschen Gemeinschaften hineintrugen, was zu Terror, Flucht, Tod und Weiterem führte. 

Erst heute beginnen in einzelnen Kommunen Politiker und Verwaltungen Licht in die damaligen Geschehnisse zu bringen, um die Zeit nach dem Bürgerkrieg endlich aufzuarbeiten. Mehrere Publikationen sind erschienen, die sich mit der Franco-Ära beschäftigen (z.B. David Ginard i Féron, Mallorca während der Franco-Diktatur, Berlin 2001; Alexander Sepasgosarian, Mallorca unterm Hakenkreuz 1933 – 1945, Göttingen 2017).

In der Serie Bungalow Park illustriert Christine Schindler mit ihren Fotografien eine fast unbekannte politische Komponente der Nachkriegszeit, die sogenannten Rattenlinien, eigentlich die „rat lines“, wie der US-amerikanische Geheimdienst und Militärkreise die Fluchtrouten führender Vertreter des NS-Regimes, Angehöriger der SS und auch der Ustascha nannten. Oder man sprach von den Klosterrouten, weil die katholische Kirche stark bei dieser Fluchthilfe nach Spanien oder Südamerika beteiligt war. In vielen Publikationen, auch in dem Fernsehfilm „Rattenlinie“ der Serie „Tatort“, sind diese damaligen Prozesse untersucht worden, ohne dass die Fakten in das breite Bewusstsein der Bürger gedrungen sind.

Bungalow Park ist eine dieser Siedlungen der Flucht, von Mauern umgeben, nicht einsehbar, von der Guardia Civil geschützt, auch vor Gerechtigkeit und den „Scheuklappen“ der Einheimischen (Wedekind a.a.O.). Die Inselbewohner sind es gewohnt, besser nicht nachzufragen. Der Schutz ruhte auch in deren Mentalität, einer langen Geschichte von Besetzungen und Fremdbestimmungen.

 

Kunstwollen

 

Schindler setzt diese Entfernung zur historischen Wahrheit gerne als Ausdrucksmittel ein. Die Idyllen laden sich inhaltlich regelrecht auf, wenn die historischen Fakten der Orte bekannt werden. Schindler schreibt sie nicht in die Fotografie ein, insoweit sind die Fotos Dokumente früherer Zeiten. Doch zugleich wachsen diese Aufladungen als Bereicherung und Verschärfung der Fotografie für den Betrachter zu ungesehenen Dimensionen, so dass er zwangsläufig immer weiter dazulernt. Die Fotos haben einen starken Aufforderungscharakter und laden den Betrachter zum Mitdenken und Argumentieren ein. Die Historie wird zur Philosophie und diese zur Fotografie.

Die Geschichte, und das gilt für alle Arbeiten der Hamburger Fotografin, wird zur Vorgabe für die zu erfassenden Objekte, die fotografisch reflektiert werden, um in der ausgelösten, gedanklichen Untersuchung als philosophische Konnotation Lebenserfahrungen von Menschen, Tätern, Opfern, Betroffenen und Überlebender aufzuzeigen. Die Fotografien führen einen existenziellen Diskurs über das Leben.

Aus der sehenden Fotografie wird eine fragende, eigentlich ein natürlicher Prozess: beim Sehen Fragen stellen, z.B. nach dem was ist das? Nur dass Christine Schindler diese Fragen vorher stellt, um sie dann fotografisch zu beantworten, ein intensiver, diffiziler und komplizierter Prozess, in den sich der Betrachter erst nach intensivem Nachvollzug integriert. Erleichtert wird das Miteinander nicht durch den schwierigen Weg der Motivauswahl, der historisch belasteten Orte etc., sondern durch das Arbeiten in Serien, so dass die Fotografien zu einem Thema sich gegenseitig erklären können. Beim Vergleichen erkennen wir die Unterschiede, das Spezifische einer jeden Fotografie.

Schindler scheut den Diskurs nicht, sie geht in ihn hinein, ohne ihn final mit erhobenen pädagogischen Zeigefinger zu führen. Sie ist nicht die autoritäre Künstlerin. Ihre Fotografie, die keinem ästhetischen Dogma oder einer visuellen Theorie unterliegt, wird aber von einem ausgeprägten Kunstwollen (Alois Riegl) geprägt, das sich nicht ikonographischen Regeln unterwirft, sondern der Selbstbestimmung des Künstlerischen folgt.

Eine Anmut kann den Fotos nicht abgesprochen werden. Doch die Künstlerin strebt nicht nach ausgewogener Schönheit, sehr wohl aber nach der Harmonie der Ablesbarkeit. Jedes, auch noch so schreckliche Thema, muss erfassbar bleiben. Die Fotos sollen nicht schockieren, sondern anregen. Denn der Betrachter beginnt nachzudenken über das, was dahinter ist, was versteckt bleibt und sich dennoch indirekt mitteilt. Die Zeitzonen vermengen sich auf jedem Foto. Sie werden dynamisiert und zugleich im neuen Zusammenhang beruhigt. Diese Negation der dokumentarischen Ansicht zugunsten einer zeitlosen künstlerischen Aussage, die keine Bestätigung sondern das Mitdenken sucht, ist als eine Negation des sehenden Denkens (!) zu verstehen.

Schindler erstellt eine realistische Fotografie, weil es ihr um Erkenntnis der Wirklichkeit im weitesten Sinn geht. Deshalb weicht sie nicht in eine idealistische Fotografie aus, die das Motiv als überhöhte Wirklichkeit erfahrbar macht. Sie verstärkt den Wirklichkeitsgehalt. Den fotografischen Naturalismus als äußere Richtigkeit vernachlässigt sie ebenso. Jedes Foto ist Ausdruck eines kritischen Realismus.

Bertolt Brecht schreibt in seinen Schriften zur Literatur und Kunst (Berlin/ Weimar 1966): „Die Lage wird dadurch so kompliziert, dass weniger denn je eine einfache Wiedergabe der Realität etwas über die Realität aussagt. Eine Fotografie der Krupp-Werke oder der AEG ergibt beinahe gar nichts über die Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus. Es ist also tatsächlich etwas aufzubauen, etwas künstliches, gestelltes.“

 

Schindler entwickelt eine eigene fotografische Poesie. Sie stellt Gedichte über Geschichte vor. Ihre Bildräume atmen und beleben die Augen der Betrachter.