HINEIN INS VERDERBEN

Prof.Dr.Gerhard Charles Rump

 

Text/ Ausstellungskatalog  » IBIZA - Abseits ist überall «

2013


Die Vergangenheit zeigt sich fast überall. Auch in der Kunst. Manchmal arbeiten Künstler und Kunsthistoriker wie Forensiker und folgen selbst den kleinsten Spuren, bisweilen aber sind die Überreste der Vergangenheit so überwältigend, dass genau das zum Thema wird, wie in Heinrich Füsslis Zeichnung „Der Künstler überwältigt von der Großartigkeit der antiken Ruinen“ (1778). Manche behaupten, dass die Faszination von Ruinen und die Ästhetik des Verfalls neuere Erscheinungen sind, das jedoch ist keinesfalls wahr. Wir kennen solche Dinge seit der Veröffentlichung der Hypnerotomachia Poliphili (1) im Jahr 1499, wir sind vertraut mit den stimmungsvollen Ruinenbildern von Giovanni Paolo Pannini (1691 – 1765) und Caspar David Friedrich (1774-1840), um nur wenige Beispiele zu nennen. Die Darstellung von Ruinen und die Faszination durch die Ästhetik des Verfalls haben in der Tat eine ehrwürdige Tradition.

 

Die Romantik schon hat Ruinen als Symbole des künstlerischen Schaffens überhaupt gedeutet. Ruinen und Verfall versinnbildlichten die Überlegenheit der Naturkräfte über den von Menschen gemachten Tand. Inbegriffen war schon die Vorwegnahme des Entropieprinzips und das Bild des Laufes der Geschichte als ein unvermeidliches Rennen um Katastrophe und Untergang. Ruinen wurden Objekte der Kontemplation, ein dauerhaftes memento mori, eingebettet ins zeitgenössische Leben.

 

In der zeitgenössischen Kunst findet man die Ästhetik des Verfalls weitestgehend in der Fotografie. Als Beispiel sei der spanische Fotokünstler Angel Marcos genannt, der sich seinem Thema mit einem gewissen magischen Realismus nähert und in seiner persönlichen Ikonographie Verbindungen zum Erinnern aufbaut. Oder die gleichermaßen ergreifenden Bilder des amerikanischen Fotografen Brian McKee, der den Zusammenbruch alter und zeitgenössischer Gesellschaften reflektiert, und das oft an historischen Orten. McKees Arbeit ist jedoch auch von konzeptueller Bedeutung jenseits der Schönheit der Bilder. In Deutschland finden wir zum Beispiel den Industrie-Chronographen Holger Mühlenbeck und die ebenso melancholischen, manchmal beinahe lyrischen Interpretationen des Verfalls von Astrid Padberg.

 

Man griffe jedoch zu kurz, reduzierte man das Werk von Christine Schindler auf Übungen in der Ästhetik des Verfalls. Es ist ein Aspekt, sogar ein wichtiger, aber ihre Herangehensweise, so wie sie sich in der Ibiza-Serie manifestiert, impliziert auch eine Geschichtsphilosophie und einen sozialen Kommentar. Ihre Bildstrategien sind dabei teils klassisch, teils innovativ – eine sehr fruchtbare Kombination.

 

Eine klassische Zurüstung ist die Nahaufnahme, die Christine Schindler gern mit der Schrägsicht verbindet. Der Blickwinkel wird dynamisch, ändert sich radikal, und Details, die man sonst gern übersieht, stehen plötzlich im Vordergrund und verlangen Beachtung, senden Botschaften.

 

Das Gegenteil hierzu stellt die Anwendung von Overall-Strukturen dar. Das bedingt einen großen Abstand, aber auch er muss sorgfältig gewählt werden, und die Dinge im Blickfeld verbinden sich, um ein serielle (oder zufällige) Struktur zu bilden, die das Bild beherrscht. Dadurch bekommt der Betrachter Einblick in das Wesen von Landschaft.

 

Die Mittellage des Motivs ist gleichfalls ein starkes Kompositionselement. Es unterstreicht die Bedeutung des Objekts. Es dient auch dazu, Dingen einen monumentalen Charakter zu verleihen und sie ein einen neuen Aufmerksamkeitszusammenhang zu setzen. Manchmal wird eine bewegende, märchenhafte Stimmung heraufbeschworen. Ein geschlossenes Gatter als Eingang zu einem halb verwilderten Park: Der Betrachter muss sich fragen, was sich dahinter versteckt, welche Schrecken der verwunschene Garten birgt. Oder welche Freuden man dort genießen kann.

 

Perspektiven, die Dinge in horizontaler Schichtung vorführen, stellen eine weitere starke Bildstrategie dar. Sie verleiht ihnen Stabilität, Schwere und Robustheit, Ausdauer. Vielleicht gelten sie auch als Symbol für den Widerstand gegen die allmächtigen Kräfte des Verfalls. Christine Schindler lässt sich auf die Ästhetik des Verfalls ein, auch in den hochpoetischen Bildern von Details von Gebäuden, wo sie sich beinahe als fotografische Forensikerin betätigt. Für sie besteht hier jedoch eine deutliche Verbindung zur Entwicklung der Gesellschaft, weil die Spuren der Pflege oder des Vernachlässigens eine menschliche Dimension beinhaltet. Es ist eine Art Geschichtsphilosophie: Wir könnten es schaffen, wenn wir nur wollten. Wir haben vielleicht aber nicht genug Ausdauer, da unsere Interessen sich ändern; der sich beschleunigende Fortschritt lässt Vieles hinter sich, das gerade gut genug ist, verbraucht zu werden, so wie die Zerstörung eines möglichen architektonischen Juwels durch seinen Missbrauch als Rennstrecke. (2) Wir tendieren dazu, gewachsene Strukturen zu zerstören, scheinen aber nichts Vernünftiges vorzuhalten, um sie zu ersetzen.

 

Überraschend innovativ ist das kombinierende Verschmelzen von Bildern. Sie gehen zumeist ineinander über, so dass sie sich von traditionellen Diptychen unterscheiden. Mit ihnen haben sie allerdings gemein, dass, obgleich beide Bilder Aufmerksamkeitszentren sind, das gemeinsame Bild eine sowohl visuelle wie semantische Einheit eigener Art bildet. Etwas Unerwartetes und Neues erscheint, das größer ist als die Teile, aus denen es besteht. Das stellt eine neue Sichtweise dar, eine neue Erklärung, eine neue bildliche Tatsache. Diese neue Tatsache ist das tertium comparationis und das Ergebnis des Vergleichs zugleich. Und so etwas gelingt nur der Kunst.

 

 

Anmerkungen

 (1) Francesco Colonna: Hypnerotomachia Poliphili, Aldus Manutius, Venezia 1499; Faksimile im Internet: http://mitpress2.mit.edu/e-books/HP/hyp000.htm. Siehe auch Liane Lefaivre: Leon Battista Alberti's Hypnerotomachia Poliphili: Recognizing the architectural body in the early Italian Renaissance. Cambridge, Mass. [u.a.]: MIT Press 1997; Alberto Pérez-Gómez: Polyphilo or The Dark Forest Revisited: An Erotic Epiphany of Architecture. Cambridge, Mass.: MIT Press 1992.

 

(2) Vgl. Reinhard Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten , Frankfurt am Main 1979; Johannes Rohbeck: Technik – Kultur – Geschichte. Eine Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie , Frankfurt am Main 2000.